Ode an die Zwiebel von Pablo Neruda

Pablo Neruda (1904-1973) war wohl der bedeutendste lateinamerikanische Lyriker.

Ode an die Zwiebel

Zwiebel,
leuchtende Phiole,
Blütenblatt um Blütenblatt
formte deine Schönheit sich,
kristallene Schuppen
ließen dich schwellen,
und im Verborgenen der dunklen Erde
füllte dein Leib sich an mit Tau.
Unter der Erde
ward dieses Wunderwerk,
und als dein unbeholfener
grüner Trieb erschien
und deine Blätter degengleich
im Garten sprossen,
drängte die Erde
ihren ganzen Reichtum zusammen
und wies deine nackte Transparenz,
wie in Aphrodite das ferne Meer
die Magnolie nachschuf,
da es ihre Brüste formte,
also bildete
dich die Erde,
Zwiebel, hell wie ein Planet
und zu leuchten
bestimmt,
unvergängliches Himmelszeichen,
rundliche Rose von Wasser
auf
dem Tisch
der armen Leute.
Verschwenderisch
lässt du
deinen Globus der Frische zergehn
im verzehrenden Sud
des Topfes
und der kristallene Saum
in des Öls Hitze
verwandelte sich in eine gekräuselte Feder von Gold.

Auch gedenke ich, wie dein Zutun
die Freundschaft des Salates fruchtbar macht,
und es will scheinen, der Himmel hilft mit,
da er dir des Hagelkorns zierliche Gestalt verlieh,
deine feingehackte Helle zu rühmen
auf den Hemisphären einer Tomate.
Aber erreichbar
den Händen des Volkes
und beträufelt mit Öl,
bestreut
mit ein wenig Salz,
tötest du den Hunger
des Tagelöhners auf mühsamem Wege.
Stern der Armen,
gütige Fee,
eingehüllt
in zartes
Papier, kommst du aus der Erde,
ewig, vollkommen, rein
wie der Gestirne Samenkorn,
und wenn in der Küche
das Messer dich zerschneidet,
quillt die einzige
leidlose Träne.
Du machst uns weinen, ohne uns zu betrüben.
Solange ich lebe,
lobsingen will ich,
Zwiebel,
für mich bist du schöner doch
als mit blendenden Schwingen
ein Vogel,
für meine Augen bist du
Himmelskugel, Platinkelch,
beschneiter Anemone
unbeweglicher Tanz,

und der Erde ganzer Duft,
er lebt in deiner kristallinischen Natur.

Klingt auf Spanisch natürlich nochmal so schön:

„Oda a la cebolla“:
Cebolla
luminosa redoma,
pétalo a pétalo
se formó tu hermosura,
escamas de cristal te acrecentaron
y en el secreto de la tierra oscura
se redondeó tu vientre de rocío…
Bajo la tierra
fue el milagro
y cuando apareció
tu torpe tallo verde,
y nacieron
tus hojas como espadas en el huerto,
la tierra acumuló su poderío
mostrando tu desnuda transparencia,
y como en Afrodita el mar remoto
duplicó la magnolia
levantando sus senos,
la tierra
así te hizo,
cebolla,
clara como un planeta,
y destinada
a relucir,
constelación constante,
redonda rosa de agua,
sobre
la mesa
de las pobres gentes.

(Bis zu Tisch der armen Leute)

Gedichtinterpretation
Ode an die Zwiebel von Pablo Neruda
Von Patricia Radda

Die „Ode an die Zwiebel“ besteht aus drei Strophen, die unterschiedlich lang sind, und welche auch sonst keine Gemeinsamkeiten haben. Die letzte Strophe besteht nur aus zwei Zeilen, die das Gedicht abrunden.
Die übrigen Zeilen wirken beim ersten Durchlesen beliebig unterteilt. Manchmal stehen zwei Worte in der Zeile, dann wieder eines oder mehr. Später merkt man, dass die einzelnen Worte nur übrigbleiben, weil sie geschrieben werden müssen, aber nicht zur poesievollen, vorangegangenen Zeile passen.

Sowohl in der ersten, als auch in der letzten Strophe kommt das Wort „kristallen“ vor. Dieses Wort wurde vermutlich noch nie im selben Text zusammen mit dem Wort „Zwiebel“ erwähnt. Pablo Nerudas Geschick liegt darin, viele solche Worte zu finden. Wunderwerk, Aphrodite und sogar ein einfaches Wort wie Blütenblatt, wirken plötzlich kostbar. Denn wer denkt bei einer Zwiebel schon an die Blütenblätter?

Zum Inhalt lässt sich Einiges sagen. Kurz: Der Autor ehrt die Zwiebel und erhebt sie in gewaltige Höhen. Während es in der ersten Strophe darum geht, wie die Zwiebel in der Erde entsteht und wächst, lobt der Autor in der zweiten Strophe ihre Einfachheit. Natürlich denkt man bei diesen ernsten Themen sofort: Die Zwiebel ist nur eine Metapher! Er meint doch etwas ganz anderes!
Aber was, wenn nicht? Die Zwiebel ernährt die einfachen Leute, die nichts haben und gleichzeitig gelangt sie in die riesigen Küchen der Oberschicht. Etwas, das wohl nicht vielen gelingt. In der zweiten Strophe fällt vor allem ein Thema auf: Die Zwiebel ist das einzige, was uns zum Weinen bringt, aber uns kein Leid zufügt. Das ist für Menschen, die sich sonst nicht erlauben zu weinen, vielleicht auch ganz wichtig. Wichtig scheint auch, dass die Schale als Schutz erwähnt wird.

Der Autor, Pablo Neruda, war der bedeutendste Lyriker in Lateinamerika. Als er die „Ode an die Zwiebel“ geschrieben hat, hat er vermutlich mit einem Auge gelacht und mit dem anderen geweint. Ohne jeden Zweifel geht es für ihn in dem Gedicht um Armut.
Darüber, dass so etwas wie eine Zwiebel viel für arme Menschen tun kann, hat er aber vermutlich eher gelacht- allein schon bei der Vorstellung, wie sich alle seine Leser fragen, auf was er jetzt wohl mit der Zeile anspielt.

Für was könnte die Zwiebel stehen? Vielleicht für das vielschichtige Leben.

3 Gedanken zu “Ode an die Zwiebel von Pablo Neruda

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